Auch in der Zahnmedizin gilt heute das biopsychosoziale Krankheitsverständnis, sagte Dr. Dietmar Oesterreich, Vizepräsident der Bundeszahnärztekammer in seinem Einstiegsvortrag in das Kongressthema „Zahnmedizin & Medizin: Nahtstellen im Fokus“ im Rahmen des 3. Hirschfeld-Tiburtius-Symposiums des Dentista Club am 4. Juni 2011 in Berlin. Die weiteren Beiträge des Kongresses zeigten deutlich, dass die Zahnmedizin inzwischen medizinischer und faszinierender denn je geworden ist – aber auch: dass sie dadurch keineswegs einfacher wird. Einen Eindruck davon zu vermitteln, wo es bekannte und noch eher unbekannte Verknüpfungen gibt, war Ziel des diesjährigen Symposiums des Zahnärztinnenverbandes – traditionell am ersten Juni-Samstag in der Kaiserin-Friedrich-Stiftung am Charité-Gelände in Berlin-Mitte.
Ein spannendes und anspruchsvolles Thema sind die Nahtstellen von Zahnmedizin und Medizin – präsentiert u.a. von (von links) PD Dr. Dr. Christiane Gleisser und Dr. Susanne Fath/Dentista-Präsidium und Dr. Dietmar Oesterreich, BZÄK-Vizepräsident
Mit sich bringt diese Entwicklung allerdings auch einen deutlichen Anstieg der öffentlichen Anerkennung der Mundgesundheit als bedeutendem Co-Faktor für die Allgemeingesundheit, so Dr. Oesterreich: Die kontinuierliche Überzeugungsarbeit von zahnärztlicher Wissenschaft und nicht zuletzt institutionell seitens der Bundeszahnärztekammer habe in vielen ärztlichen und anderen Gesundheitsorganisationen für Aufmerksamkeit gesorgt und inzwischen zu Zusammenarbeit auf Augenhöhe geführt. Deutlich werde weiterer Forschungsbedarf zu Kausalitäten. Die von ihm vorgestellten Beispiele reichten von medizinischen Themen wie Diabetes über verhaltensbedingte wie Rauchen bis hin zu präventiven wie Ernährung und demografischen wie gesund Altern. Die Betonung medizinischer Aspekte in der Zahnmedizin untermauere die Rolle und Bedeutung des Faches: „Zahnmedizin ist ein wichtiger Teil der medizinische Grundversorgung!“ Dr. Oestereich begrüßte die Initiative des Dentista Club, die Thematik mit einem eigenen Symposium zu würdigen.
In ihrer Einführung sagte Club-Präsidentin Dr. Susanne Fath, es sei beeindruckend, auf wie vielen Gebieten mittlerweile Zahnmedizin und Medizin bereits gemeinsame Wege gingen – das Symposium präsentiere sowohl bekannte als auch weitgehend neue Aspekte zur Thematik. Dr. Andrea Diehl/Berlin, Dentista-Vorstandsmitglied, beispielsweise zeichnete spannende ganzheitliche Verbindungen zwischen Gynäkologie und CMD auf mit besonderem Blick auf die steigende Anzahl von Kaiserschnitten. Bestimmte Bereiche des Gehirns, die mit CMD in Verbindung gebracht werden, stünden in Beziehung zu Arealen, die ihrerseits mit dem Sacrum verbunden seien. Hier erweise sich die Dura mater als Verbindungsbrücke.
Im Sponsorenvortrag stellte ZTM Andreas Menge von Henry Schein ergänzend und passend zum Thema neue CMD-Diagnostikverfahren vor, die den klassischen Gesichtsbogen ersetzen und durch digitale Erfassung eine genauere und fehlerminimiertere Einartikulierung des Unterkiefers ermöglichten.
Auch ein noch eher junges Gebiet sei der Komplex „Hormone und Mundgesundheit“, dem sich Dentista Vizepräsidentin PD Dr. Dr. Christiane Gleissner/Mainz, zugleich Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für geschlechterspezifische Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde/DGGZ widmete. Der Hypothalamus stehe als „Schaltzentrale“ des Körpers in enger Abstimmung mit der Hypophyse, die lebenswichtige Reaktionen im Körper beeinflusse. Eine Übersicht zeigte derzeit bekannte endokrine Störungen mit oralen Manifestationen, als ein Beispiel von vielen eine Dentitio praecox, die ein Hinweis sein könne auf eine Schilddrüsenüberfunktion. Nicht zuletzt sei das Immunsystem hormonell mitgesteuert und von besonderer Relevanz für die Parodontitispathogenese. Umgekehrt müssten Gynäkologen und Endokrinologen solche Zusammenhänge ebenfalls kennen, um individuell passende Kontrazeptiva bzw. Hormonsubstitute zu verschreiben.
Nicht nur, aber insbesondere bei Praxen mit dem Angebot invasiver Verfahren wie der Implantologie sei die gesundheitliche Entwicklung des Patienten noch intensiver als heute zu beachten, legte Dr. Dr. Anette Strunz/Berlin den Tagungsteilnehmern ans Herz: „Aktualisieren Sie gerade bei Stammpatienten immer mal wieder den Anamnesebogen und lassen Sie ihn unterschreiben!“ Ihr Tipp:. „Fragen Sie einfach: Hat sich in letzter Zeit etwas verändert, haben Sie jetzt Diabetes oder eine Tumor-Erkrankung?“ Oft liefere ein DVT eine zusätzliche Absicherung von Patient und Zahnarzt gleichermaßen. Anhand von 3D-Folien zeigte sie körperliche Veränderungen, die den Patienten nicht bewusst, für die geplante Behandlung aber von großem Einfluss waren.
Den „ganzen Patienten sehen“ müsse man auch beim Würgereiz, machte Prof. Dr. Stephan Eitner/Erlangen in seinem entsprechenden Beitrag deutlich. Im Bereich der Psyche hingen Angst und Würgen zusammen, beides habe den gleichen Wortstamm „Enge“. Somatisch bedingt sei Würgen nur in speziellen Fällen wie bei einer Sinusitis, an sich sei es eher Folge einer Belastung der Seele. Unbedingt zu vermeiden sei bei solchen Patienten der Einsatz von Hypnose: „Sie machen vielleicht ein Scheunentor ins Unterbewusste auf, das Sie nicht mehr zu bekommen.“
Ein eher bekanntes, wenn auch noch nicht immer verstandenes „Wechselspiel“ Zahnmedizin/Medizin ist Diabetes und Parodontitis. In ihrem Beitrag leuchtete Dr. Fath sowohl den Einfluss von Diabetes auf Parodontitis an wie auch den umgekehrten Fall. Diabetiker litten Studien zufolge mehr unter Parodontitis und auch in tendenziell höherer Ausprägung. Eine effektive PA-Therapie könne andererseits bei Typ-2-Diabetikern den Blutzuckerspiegel positiv beeinflussen. Die Ärzte seien aufgerufen, ihre Patienten mehr auf das Thema Mundgesundheit anzusprechen.
Implantate und CMD
Funktionsstörungen können, so PD Dr. Ingrid Peroz/Charité und wissenschaftliche Leiterin des Symposiums, sehr verschiedene Ursachen haben, angefangen von somatischen wie Traumata bis zu psychischen wie Ängste und Stress. In bestimmten Fällen könnten Implantate bei Funktionsstörungen Hilfestellung geben: „Die verkürzte Zahnreihe, die zu Problemen im Kiefergelenk führt, ist aus funktioneller Sicht Hauptaufgabe einer Implantatlösung.“ Es gebe auch Zahnersatz-induzierten Bruxismus, der durch eine Implantatversorgung verbessert werden könne.
Die „Nahtstelle“ Mundschleimhaut hatte Dr. Veronika Hannak/Berlin zum Schwerpunkt ihres Beitrages gemacht. Von Landkartenzunge über Candidiasis bis zu Herpes simplex beleuchtete sie eine Reihe in der Praxis verbreiteter Mundschleimhauterkrankungen und gab praxisnahe Therapieempfehlungen, darunter einen alltagserprobten Tipp bei Herpes: „Einen mit Alkohol, es geht notfalls auch schon mal Wodka, getränkten Wattebausch – auch wenns brennt – fest auf die Stelle drücken: Das reduziert das Einwandern von Viren in das umliegende Gewebe!“ Ihr Credo, das sie allen Tagungsteilnehmern ans Herz legte: „Bei einer 01 sollte man immer auch die Mundschleimhaut checken!“
Für Programm, Referenten und Organisation gab es im Kongress-Fragebogen sehr gute Bewertungen – und weitgehend nur eine Kritik, die ihrerseits eher ein Bedauern war: „Hier hätten noch viel mehr Kolleginnen und Kollegen sitzen müssen!“