Die Zeiten für ein Fragezeichen, ob man sich auch in der Zahnmedizin, wie in der Medizin, mit geschlechterbezogenen Aspekten befassen muss, sind sicher vorbei – das ist die klare Bilanz des 2. Hirschfeld-Tiburtius-Symposiums am 5. Juni 2010 in Berlin.
„Die Frage des biologischen Geschlechts muss der Berufsstand neben die des Alters und des Bildungslevels in epidemiologische Erhebungen mit aufnehmen.“
Der Dentista Club, Veranstalter dieses jährlichen Symposiums, hatte bereits beim Motto der Veranstaltung „Gender Dentistry“ bewusst auf ein Fragezeichen verzichtet – zu eindrucksvoll waren die bereits im Vorfeld bekannten vielschichtigen Aspekte, die bei der Tagung noch um weitere ergänzt wurden. Die bereits seit zwei Jahren aktive Arbeitsgruppe unter dem Dach des Verbandes, die sich mit „Sexus & Gender“-Fragen in der Zahnheilkunde beschäftigt hatte, hat am Vorabend des Symposiums die Arbeitsebene und auch den Namen gewechselt und einen selbständigen Auftritt beschlossen: Als „Deutsche Gesellschaft für geschlechterbezogene Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde“ (DGGZ) wird sich die Fachgesellschaft, die ihre Thematik als Querschnitts-Fach versteht, im Frühsommer mit einem unabhängigen Portal der Fachöffentlichkeit vorstellen. Hier werden die Ergebnisse des 2. Hirschfeld-Tiburtius-Symposiums den fachlichen Startschuss in verschiedenen Disziplinen abgeben.
Die Vielfalt der Erkenntnisse, die in der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde mittlerweile zu geschlechterbezogenen Unterschieden in der Mundgesundheit vorliegen, macht deutlich, dass der Berufsstand die Frage des biologischen Geschlechts neben die beispielsweise des Alters und des Bildungslevels in epidemiologische Erhebungen mit aufnehmen muss, sagte PD Dr. Dr. Christiane Gleissner, Universität Mainz und wissenschaftliche Leiterin der Tagung, in ihrem breit angelegten Einführungsvortrag. Im Zentrum der derzeitigen Forschungsaktivitäten stehe zunächst die systematische Erfassung bereits vorhandenen Wissens, um noch zielgenauer der Entstehung von Krankheiten im oralen System vorbeugen zu können. Um der Bandbreite der Thematik Rechnung zu tragen, war das Programm der Tagung, das von Dentista-Präsidentin Dr. Susanne Fath geleitet und moderiert wurde, in drei Blöcke geteilt: „Wir wollen Ihnen mit den Bereichen lsquo;Wissenschaft – Praxis – Psychologie’ eine vielschichtige Übersicht über das aktuelle Wissen zur geschlechterbezogenen Zahnheilkunde vorstellen – von den Grundlagen der Medizin bis zur praktischen Berufsausübung.“
Anhand der DMS IV-Daten schilderte Dr. Sebastian Ziller/BZÄK auffällige geschlechterbezogene Unterschiede und betont, dass man den Ursachen für eine höhere Kariesprävalenz bei Mädchen (ab 15 Jahre) und Frauen aller Altersklassen im Vergleich zu gleichaltrigen Jungen/Männern trotz besserer Mundhygiene, regelmäßigeren zahnärztlichen Kontrollbesuchen und einem besseren Versorgungsgrad gezielter nachgehen muss. Ohnehin habe sich die Bewertung von Geschlechterunterschieden in der Medizin von “vornehmer Ignoranz“ zu einer ernstzunehmenden Fragestellung gewandelt. Die SHIP-Studie war Grundlage für die Datenübersicht seitens ZÄ Daniele Gätke/Universität Greifswald mit Blick auf die Parodontologie: Interessant sei, dass Frauen in der Region Vorpommern parodontal gesünder seien und dennoch über weniger Zähne verfügten. Hinsichtlich der geschlechtsspezifischen Unterschiede in der systemischen Wirkung sei noch viel Forschung nötig. Auch hinsichtlich der CMD wurden die SHIP-Daten genutzt im Beitrag von PD Dr. Olaf Bernhardt/Universität Greifswald: Während bei Männern, so das Ergebnis, neben chronischen Allgemeinerkrankungen wie Gicht und Arthrose auch okklusale Faktoren (Stützzonenverlust) einen signifikanten Zusammenhang mit CMD zeigten, waren bei Frauen die Angabe einer allgemeinen Arthose und die Einnahme von Hormonpräparaten Risikofaktoren für CMD. Signifikant zeigten sich die geschlechterbezogenen Unterschiede auch bei Mundschleimhauterkrankungen: OÄ Dr. Christiane Nobel/Charité zeigte, dass die proliferierende verruköse Leukoplakie zu 80% Frauen betrifft und viele Autoimmunerkrankungen bei Frauen häufiger auftreten, so der orale Lichen planus doppelt so oft wie bei Männern, Lupus erythematodes sogar neun mal häufiger. Sie bedauerte „die dürre Datenlage“.
Mit Blick auf Daten des IDZ zeichnete Dr. David Klingenberger verschiedene geshlechterbezogene Unterschiede in der Praxisführung auf, die Daten belegten u.a., dass Zahnärztinnen offenbar bestandswahrender und mit ihrer Situation zufriedener seien als ihre expansionsinteressierten, aber auch finanzielle Risiken eingehenden männlichen Kollegen. Die Conclusio aus vielen verschiedenen Daten zeige, dass die Zahnarztstunde bei Männern teurer sei als bei Frauen. Letztere hätten, so Medizinrechtlerin Dr. Frauke Müller/Stuttgart mit Blick auf die Erfahrungen ihrer Kanzlei, zwar weniger Probleme mit Behandlungsfehlerklagen, dafür mehr mit dem Problem, schlecht NEIN sagen zu können und Behandlungen gegebenenfalls rechtzeitig abzubrechen. Spannend war auch eine aktuelle Studie zum Thema „Genderforschung in der universitären Lehre“: Die bisher über Studentenbefragung laufende Evaluation von Lehre zeige, so PD Dr. Margrit-Ann Geibel/Universität Ulm, dass die Bewertung nach bekannten lsquo;Klischees’ und unabhängig von der tatsächlichen Qualität des Inhalts erfolge: Attraktive Dozenten hatten die besten Bewertungen erhalten – im Gegensatz zu attraktiven Frauen, deren Aussehen mit wenig Fachkompetenz verbunden wurde. Hinsichtlich der Praxiseinrichtung unterschieden sich Zahnärztinnen und Zahnärzte oft in der „Wärme“ einer Gestaltung, sagte Gast-Referent Giorgio Nocera/Henry Schein in einem der beiden Sponsoren-Vorträge: Männer mögen es gerne stylish, was manchen Frauen als lsquo;kalt’ erscheint, er empfahl umgekehrt den Zahnärztinnen: „Machen Sie es den Männern nicht zu warm in den Farben!“ Im zweiten Sponsorenvortrag berichtete Thomas Schröder/dentaltrade, dass – anders als durch IDZ-Daten zum Praxisumsatz zuerst erwartet, die interne Datenerhebung einen leicht größeren Kundenkreis auf Seiten der Zahnärzte statt der Zahnärztinnen ergab.
Die Frage, ob Zahnärztinnen der Zahnärzte empathischer seien, ist oft auch Gegenstand von Karikaturen – dass man der Frage auch wissenschaftlich begegnen kann, zeigte Dentista-Präsidentin Dr. Susanne Fath aus neurowissenschaftlicher Sicht. Es gebe in der Tat signifikante Unterschiede – allerdings nur in der Art der Empathie, nicht in der quantitativen Gewichtung. Die Unterschiede seien auch im Gegenüber mit dem Patienten relevant – das Erkennen der Emotionen des anderes Geschlechtes sei oft schwer. Passgenau berichtete Praxis-Coach Hans-Dieter Klein über „Wege aus der Empathie-Fall“ und beschrieb die Risiken des „Eigenfilters“, also der eigenen Sicht auf Qualitätslevel beispielsweise, die man unbwusst Patienten überstülpe: Wer eher niedrigschwellige Angebote mache, dürfe nicht erwarten, dass Patienten von sich aus nach kostspieligeren Lösungen fragen. Zu einem für die zahnärztliche Prävention hilfreichen Highlight wurde der Abschlussvortrag von Dipl. Psychologe Thomas Altgeld, u.a. Autor des Buches „Männergesundheit“. In der Kommunikation seien zahlenorientierte Problem-Lösungen und auch Anglizismen sinnvoll, anstelle textlastiger Ratgeberbroschüren lieber Informationen im Praxis-TV oder an einem Wartezimmer-PC. Wichtig sei auch, dass die Autorität Arzt mit dem Mann rede und nicht „ein Mädchen aus dem Personalbereich“.
In der abschließenden Diskussion sagte Dr. phil. Bärbel Miemietz, Mitinitiatorin des Kompetenzzentrums für geschlechtersensible Medizin an der Medizinischen Hochschule Hannover, sie sei enorm beeindruckt von dem in der Zahnmedizin bereits entwickelten Wissen und Denken in dieser Thematik, die auch in die neue Approbationsordnung für Zahnärzte aufgenommen werden soll. Dr. Gleissner untermauerte dies: Notwendig sei, das habe bereits dieses Symposium mit seinen vielfältigen Facetten gezeigt, die Aufnahme des Querschnittsthemas „Geschlechterforschung“ in die Lehre, dabei sei unabdingbar der Fokus auf beide Geschlechter zu legen. Der Dentista Club, mehrfach als Trendsetter in der Zahnmedizin bezeichnet, wurde dazu angeregt, die Thematik voranzutreiben und mit der Medizin zu vernetzen. Erste Erfolge sind bereits zu verbuchen: Die zahnmedizinischen Erkenntnisse im Bereich der Geschlechterforschung konnten seitens des Zahnärztinnenverbandes auch in renommierte medizinische Kongresse eingebracht werden, so bei der im September 2010 stattfindenden Tagung „Medizin und Geschlecht: Perspektiven für Lehre, Praxis und Forschung / Gender and sex in medical education, practice and research“ an der MMH und bei der Summerschool 2010 des Institute for Gender in Medicine (GiM) Charité – Universitätsmedizin Berlin.