Vielleicht ist es das Duett aus „traditionell und zeitgemäß“? Vielleicht ist es die persönliche und freundschaftliche Atmosphäre? Vermutlich ist es die Symbiose aus verschiedenen Faktoren, die das Hirschfeld-Tiburtius-Symposium (HTS), das Jahressymposium des Dentista e.V., zu einem nachhaltigen Erlebnis für alle Teilnehmer werden lässt: Dass dem so ist, zeigten erneut die zahlreich eingegangenen Evaluationsbögen. Am 18. Juni 2016 trafen sich Dentista-Mitglieder und Kongress-Interessenten zum 8. HTS in der Kaiserin-Friedrich-Stiftung (Berlin-Mitte).
Tagtäglich sind Zahnärzte und Zahntechniker im Arbeitsalltag angehalten, wichtige Entscheidungen zu treffen. Die vielen Neuerungen für Praxis und Labor – Produkte, Vorgehensweisen, Ansichten und Einsichten – lassen dies immer schwieriger werden. Was bringt wirklich Nutzen? Welche Wege können als State-of-the-art bezeichnet werden? Auf dem 8. HTS vermittelten die Referenten wertvolle Fakten für die sichere Entscheidungsfindung. Viele angesprochene Aspekte stammen aus der Facebook-Gruppe vom Dentista e.V., quasi „live aus dem Praxisleben“. Der Vorstand sammelte die Fragen und kombinierte sie gemeinsam mit der wissenschaftlichen Leiterin PD Dr. Ingrid Peroz (Berlin) zu einem vielfältigen Programm.
„Kann man Karies wirklich einfach im Zahn lassen?“
PD Dr. Falk Schwendicke (Berlin) thematisierte das veränderte Verständnis von Karies. Er plädierte dafür, sich von einer rein symptomatischen Entfernung kariöser Läsionen wegzubewegen. Viel wichtiger sei es, die Zusammensetzung des dentalen Biofilms als Ursache der Erkrankung zu kontrollieren und präventiv vorzugehen – Beispiel: Versiegelung. Diese wirke als Imprägnierung des Zahnes und als Diffusionsbarriere. Bakterien, die unter der Versiegelung liegen, „hungern aus“. Versiegelung und Infiltration seien von der Idee her prinzipiell gleich. Bei der Kariesexkavation verzichtet Dr. Schwendicke auf eine vollständige Ausräumung des infizierten Dentins, insbesondere, wenn die Karies profund ist. Die Kavitätenränder müssen dagegen kariesfrei sein, um die Dichtigkeit der Füllung zu gewährleisten. Auch hier werden die im Dentin zurückbleibenden Mikroorganismen versiegelt, die Ernährungszufuhr unterbunden und die Läsion inaktiviert. Der Verzicht auf eine vollständige Exkavation reduziere die Gefahr einer Pulpaexposition mit daraus resultierender Wurzelkanalbehandlung, die bei Misserfolg bis zur Extraktion von Zähnen reichen kann.
„Wie werden parodontal geschädigte Zähne heutzutage prothetisch restauriert?“
Dr. Daniel Pagel MSc. (Berlin) stellte eine Risikoanalyse und Risikobeurteilung für die Ermittlung der parodontalen und prothetischen Wertigkeit vor: Diese erleichtern die Entscheidung für die weitere Vorgehensweise und geben Orientierung. Die Risikoanalyse impliziert die Sondierungstiefe, den Furkationsgrad, den Knochenverlust und den Lockerungsgrad und gewichtet strenger, wenn ein Zahn prothetisch versorgt werden muss. Grundsätzlich erachtet der Referent die Extraktion eines Zahnes einzig aufgrund eines parodontalen Risikoparameters – ohne Berücksichtigung anderer Faktoren – als nicht gerechtfertigt und favorisiert die differenzierende Betrachtung: „Oft werden Zähne unterschätzt. Auch schwer geschädigte Zähne können erhalten werden, was beispielsweise bei einer geschlossenen Zahnreihe ein wichtiger Aspekt ist.“ Dass hochwertiger Zahnersatz auch für das parodontal kompromittierte Gebiss ein erfolgreiches Therapiekonzept sein kann, zeigte er anhand diverser Patientenfälle. Zum Abschluss mahnte der Referent aber auch, trotz Zahnerhaltungswunsch rechtzeitig eine Entscheidung zu treffen, denn Knochendefekte und ein kompromittiertes Implantatlager seien möglichst zu umgehen.
„Gibt es undichte Implantate – und hat dies Relevanz für Periimplantitis?“
Spannend und brisant: Prof. Dr. Katja Nelson (Freiburg) erhielt für ihren Vortrag langen Applaus und fast Standing Ovations. Der datenbasierte Vortrag ging auf Stärken und Grenzen der Hardware „Implantat“ ein. „Wir alle sind immer nur auf Bakterien fokussiert. Doch es sind nicht nur die Bakterien, die Periimplantitis auslösen“, so die Referentin. Ihr Vortrag widmete sich der Mechanik von Implantatsystemen, zeigte auf Raster-Elektronen-Mikroskop-Aufnahmen Metallabrieb (Nanopartikel) auf dem Gewebe und nahm die Implantatverbindungen sowie deren Dichtigkeit in den Blick. Butt-Joint (Anschlagverbindung) oder konische Verbindung? Laut Katja Nelson ist kein System im Interface wirklich spaltfrei. In eingehenden Untersuchungen konnten bei allen Implantatsystemen Spalten nachgewiesen werden. Auch bei der konischen Innenverbindung, bei der häufig von einer „Kaltverschweißung“ gesprochen wird, wurden bei Untersuchungen (per Synchrotron-Röntgen) Spalten identifiziert. Ihr Fazit: Die Positionsstabilität der Implantat-Abutment-Verbindung sei von der Geometrie und der Fertigung abhängig. Bei allen Systemen existieren Mikrobewegungen.
„Ist die Lehrmeinung zur Parodontitis aktuell oder hilft systemisches Denken weiter?“
Zu dieser Fragestellung stand Dr. Heinz-Peter Olbertz (Troisdorf) Rede und Antwort. Klares Statement: Parodontitis darf nicht als isoliertes zahnmedizinisches Problem betrachtet werden. Ein gesunder Organismus würde die vermehrte Bakterienansammlung auf den Zähnen in „den Griff“ bekommen. Ist der Organismus geschwächt, bricht Parodontitis aus. Diese sei insofern auf eine gestörte Regulationsfähigkeit zurückzuführen. Die Mundhöhle wird zum Spiegel der körperlichen Gesundheit. Die Ursachen der Störung bzw. die Herde können im Körper verteilt sein und sich zum Beispiel im Dünndarm, den Nasennebenhöhlen, den Zähnen etc. befinden. Insbesondere der Darmschleimhaut misst er hohe Bedeutung bei. Hier könne eine mikrobiologische Therapie – Ersatz pathogener Bakterien gegen gesundheitsfördernde – sinnvoll werden. „In vielen Fällen reicht die örtliche Therapie am Zahn nicht aus“, konstatierte der Referent. Für die frühzeitige Diagnostik stellte er den aMMP-8-Test vor. Noch bevor klinische Anzeichen auftreten, wird mit diesem Test der Sulkusfluid auf die aktive Form der Matrix-Metalloproteinase-8 (aMMP-8) untersucht, Hauptursache für die parodontale Zerstörung.
„Gibt es einen geschlechterspezifischen Unterschied in der zahnärztlichen Diagnostik und Therapie?“
PD Dr. Christiane Gleissner (Friedberg) sprach über das Thema Gender Dentistry und brachte wesentliche Facts auf die Bühne. Sie sensibilisierte dafür, dass es in jedem medizinischen Bereich Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Patienten gibt, auch in der Zahnmedizin. Die Geschlechter unterscheiden sich hinsichtlich der biologischen Voraussetzungen, darunter pharmakologische und allgemeinmedizinische Aspekte. Zudem haben ein unterschiedlicher Knochenstoffwechsel, auch ein unterschiedliches Immunsystem Einfluss auf die Mundgesundheit. Postmenopausale Veränderungen wirken sich auf das Parodontium aus, geringere Knochendichte und abgeschwächte Immunantwort gehen mit einem erhöhten Risiko für Knochenverlust einher. Hinsichtlich der epidemiologischen Evidenz betonte sie, dass Frauen häufiger von Karies, Zahnverlust, Zahnlosigkeit und Kiefergelenkerkrankungen betroffen sind. Männer entwickeln öfter Wurzelkaries, erosive Zahnhartsubstanzdefekte, Leukoplakien und orale Malignome. „Frauen entscheiden sich häufiger für einen hochwertigen Zahnersatz“, zitierte die Referentin eine Statistik und übergab damit den „Staffelstab“ an das nächste Referenten-Team.
„Vollkeramik und Okklusion – Wie geht das zusammen?“
PD Dr. Ingrid Peroz (Berlin) und Prof. Dr. Peter Pospiech (Berlin) beantworteten die provokative Frage zur Vollkeramik mit einem didaktisch gut aufgebauten Vortrag. Dr. Peroz widmete sich der okklusalen Morphologie und nannte deren bestimmende Faktoren: anteriore Führung der Frontzähne, Lage der Kauebene zur horizontalen Referenz, Kondylenbahnneigung, Spee`sche Kurve, Bennett-Bewegung … Die vielen Einflussfaktoren auf die korrekte Übertragung der Mundsituation in den Artikulator dürften in Zeiten von Vollkeramik nicht vernachlässigt werden. „Ohne die Bestimmung funktioneller Parameter ist es unmöglich, eine Restauration herzustellen, die im Mund nicht eingeschliffen werden muss“, mahnte sie. Prof. Pospiech griff diese Aussage auf und beschrieb u.a. Wege, die bei einer monolithischen Zirkonoxid-Restauration zu einer adäquaten Oberfläche führen. Denn entgegen der häufig zu hörenden Aussage, die Härte sei ausschlaggebend für den Antagonistenverschleiß, betonte er die Oberflächenqualität: „Bei einer hochglatten Oberfläche ist der Verschleiß am geringsten.“ Die Werkstoffkunde sei die Pharmakologie des Zahnarztes, daher ist ihr hohe Aufmerksamkeit zu widmen. Werden moderne vollkeramische Materialien material- und okklusionsgerecht behandelt, sind stabile Ergebnisse zu erwarten.
Wohlfühlen und Lernen – Wie kann das kombiniert werden?
Alle Vorträge wurden im Auditorium diskutiert. Die hohe Zahl der Fragen und Diskussionsbeiträge zeigte, dass die Themen den Nerv der Zeit trafen. Ob im Auditorium, in den Pausen oder beim Get-together: Die freundschaftliche Wohlfühlatmosphäre ließ eine entspannte und zielgerichtete Wissensvermittlung zu. Hohe Praxisrelevanz, verknüpft mit wissenschaftlichen Aussagen, machte das Vortragsprogramm rund. Das 8. HTS-Symposium war auch ein gelungener Abschluss für die wissenschaftliche Leiterin, PD Dr. Ingrid Peroz. Sie überreicht ihre Funktion nach Jahren erfolgreichen Engagements für den Dentista e.V. weiter an PD Dr. Dr. Christiane Gleissner.
Kongressbericht: Annett Kieschnick
Zum Bild:
Von Wissenschaft über Praxis bis Standespolitik: Das 8. Hirschfeld-Tiburtius-Symposium des Dentista e.V. unter Leitung von PD Dr. Ingrid Peroz (Bild) bot Entscheidungshilfen für den Praxisalltag (Bild: Annett Kieschnick)